Knaurs Jazzlexikon 1957 (Auszug)

Jazz

Jazz, zeitgenössischer Musikstil, der sich durch bestimmte Eigenschaften ursprünglich negerischer Herkunft auszeichnet. Etymologische Bedeutung des Wortes ungewiss; aufgekommen etwa um 1917, als die damit bezeichnete Musikform bereits mehrere Generationen alt war. Muss unterschieden werden in den historischen Jazz und den modernen Jazz.

Der historische Jazz ist der als eine volkstümliche Instrumentalmusik der nordamerikanischen Neger in und um New Orleans entstanden und umfasst zwei deutlich zu trennende Entwicklungsstufen: den archaischen (frühen) Jazzstil und den klassischen Jazzstil. Beide sind in ihren musikalischen Grundelementen negerisch, ihre wichtigsten Ausdrucks- und Formmittel leiten sich aus der afro-amerikanischen und afrikanischen Musik ab, ihre Bildung erfolgte über eine Vielzahl vokaler negegerischer Vorformen, z.B. Work Songs, Spirituals, Blues, die insgesamt der afro-amerikanischen Musik als wichtige Bestandteile angehören. Diese wiederum ensteht als negerische Volksmusik Amerikas aus der Begegnung zwischen der afrikanischen Musik der Sklaven und der europäischen Musik der weissen Amerikaner. Die Bezeichnung afro-amerikanisch deutet den Vorgang der Einschmelzung bestimmter abendländischer Musikelemente in die negerische musikalische Grundsubstanz an-. die wichtigsten Kennzeichen des historischen Jazz sind: die Stegreiferfindung seiner Melodien in gleichzeitigem Kollektivspiel, die charakteristische Rhythmische Bewegungsform dieser Melodien nach dem Prinzip des off-beat, die Verwendung einer Rhythmusgruppe zur Erzeugung eines 'beat' als Bezugspunkt für die rhythmischen Verlagerungen in der Melodik, die Anwendung zahlreicher tonaler, intonatorischer formaler, instrumentaler Ausrucksmittel und Techniken grösstenteils negerischer Herkunft als funktionelle Bildungselemente, die Form der Instrumentierung, die Systematik der Stimmerfindung durch Improvisation in sanglicher Einfachheit, die Rückführbarkeit des kollektiven Zusammenspiels auf das afrikanische Responsorialschema. Die Entwicklung des klassischen Jazzstils stellt den Höhepunkt der afro-amerikanischen Musikform dar. Über ihn hinaus findet im folkloristischen Bereich des Negermusizierens keine Weiterentwicklung statt. Dieser Höhepunkt wird in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Chicago erreicht. Von da an verändert sich der historische Jazzstil entweder in Richtung auf den modernen Jazz  oder zieht sich vollständig aus der Öffentlichkeit zurück, um lediglich in seiner Geburtsstadt New Orleans als wichtiger Kulturbestandteil der Neger weiterzuexistieren. Dort wird er gegen Ende der dreissiger Jahre wiederentdeckt und in der sogenannten New Orleans Renaissance erneut in die Öffentlichkeit gebracht, die nun ein grundsätzliches Verständnis für seine Eigenart gewinnt.

Der moderne Jazz ist die selbständige Weiterentwicklung des ursprünglich volkstümlichen Jazz-Idioms nach seinem Heraustreten aus dem folkloristischen Bereich. Er bedeutet die Entwicklung des Jazz zu einer zeitgenössischen Kunstform im Sinne absoluter Musik. Seine Bildung wird hauptsächlich aus zwei Quellen gespeist: a) die grösstmögliche Assimilierung des Negermusizierens an das musikalische Ideal des Abendlandes; b) die Nachahmung des Jazz-Idioms durch weisse Musiker. Kennzeichnend für den modernen Jazz ist aus diesem Grunde die Tatsache, dass seine musikalischen Grundelemente umgekehrt verteilt sind wie im historischen Jazz: nicht negerische Grundsubstanz und angenommene weisse Eigenschaften, sondern weisse Grundsubstanz und hinzugefügte negerische Elemente oder deren Abwandlungen und Nachahmungen. Der Übergang vollzieht sich bei den Negermusikern in Chicago und ist am Beispiel von Louis Armstrong besonders deutlich nachzuweisen: Die traditionellen Ausdrucksmittel werden zu obligatorischen Stilbesonderheiten und verlieren ihre Funktion, die Technik der Stimmerfindung wechselt über in ein figuratives Auszierungsverfahren, das kollektive Zusammenspiel in mehrstimmiger Linearität wird aufgegeben zugunsten eines harmonisch-vertikalen Zusammenklangsprinzips, unter dessen Einfluss die Bildung von harmonischen Melodiesätzen erfolgt und die einzelinstrumental besetzte Jazzband zur satzweise musizierenden Swingband erweitert wird.

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